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Um das Spiel – das Kletterer spielen – zu verstehen, müssen
wir weit zurückschauen: In allen Diskussionen zum Klettern
ging es um das
WIE
. Auf der einen Seite um die Frage, wie weit
wir mit Hilfe der Technologie die Felsnatur manipulieren, auf
der anderen Seite um die Natur des Menschen, die sich beim
Klettern am Limit aufschlüsselt. Es ging also um Stil, Naturver-
ständnis und maximales Erlebnispotenzial für die Menschen,
nicht nur um Moral oder Ökologie.
Schon Paul Preuß, Provokateur und Sprecher des „Mauerhakenstreits“
1911, stellte die Sicherheit des einzelnen Kletterers in den Mittelpunkt der
Diskussion und forderte Können statt Sicherung, die in seinem Verständnis
immer nur Unsicherheit kaschiert. Mit seinemPostulat – das Können ist des
Dürfens Maß – fand er bei allen Diskutanten zwar Verständnis aber kaum
Nachfolger. Knapp 50 Jahre später, im Rahmen der „Direttissima-Dis-
kussion“, ging es um den Haken als Steighilfe und den Bohrhaken als wei-
teresMittel, umdas Unmögliche an unberührt verbliebenen Felsabbrüchen
in den Alpen zu beseitigen. Der Mauerhaken, zur Sicherung in Ritzen
oder Löcher geschlagen, amStandplatz oder als Zwischensicherung, hatte
sich längst durchgesetzt.
Hatte Paul Preuß das Seil als Sicherung und Steighilfe nur für den Seil-
zweiten verstanden – ein Hanfseil taugte auch nicht zu viel mehr – und
vom Seilersten gefordert, jede Passage frei und sicher wieder absteigen
zu können, sicherte im „extremen Fels“ der Zwanziger- und Dreißiger-
jahre der Seilzweite an einem eingerichteten Standplatz vor allem den
Seilersten, der an der Grenze seines Kletterkönnens mehr oder weniger
viele Zwischensicherungen legte oder setzte. Man legte die Zwischen-
sicherung also dort, wo die Felsnatur es zuließ, bevorzugt dort, wo man
stehen konnte, und nicht erst, wenn die Hände wegen der hohen Kletter-
schwierigkeiten nicht mehr frei waren. Wer aber so nicht weiterkam,
war zum technischen Klettern gezwungen. Ganz einfach deshalb, weil
nur auf Seilzug, an Haken hängend – Zinnen-Nordwand 1933 – oder in
den Strickleitern baumelnd – Direttissima 1958 – der nächste Haken
oder Bohrhaken gesetzt werden konnte. Die Methode, sich mit Hilfe
von Hakenleitern, Bohrhaken, Steigbügeln und Verbindungsschnüren
zum Einstieg durch absolut überhängende Wände zu nageln, führte
„Direttissima“ in eine Sackgasse und löste zugleich die Frage nach einer
zeitgemäßen Schwierigkeitsbewertung modernerer Felstouren aus:
Die Diskussionen um die Einführung des siebten Grades (6b auf der fran-
zösischen Skala, die fast überall für das Sportklettern gilt). Das Gezeter
klang wie die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel. Warum wohl?
Weil viele Kletterer im Schwierigkeitsgrad ihrer Erstbegehungen ein Maß
ihres Kletterkönnens sahen und weniger einen Tipp für die Wiederholer.
Erst mit der Öffnung der Schwierigkeitsskala nach oben explodierte das
Kletterkönnen und bald gab es den siebten Grad im Kaisergebirge, im
Bergell, in den Dolomiten, wo vor allem Zanolla und Mariacher mit ihren
Erstbegehungen die alte Schwierigkeitsskala sprengten. Trotzdem: Wer
hätte damals geahnt, dass dreißig Jahre später der elfte Grad geklettert
werden sollte. Im Gebirge!
Bei einem Symposium im September 1978 in München einigten sich füh-
rende Fachleute aus den USA und Europa, den siebten Grad einzuführen:
Fritz Wießner, Anfang der Siebzigerjahre noch Gegner einer Erweiterung
der sechsstufigen Schwierigkeitsskala nach oben – inzwischen Verfech-
ter des siebten Grades – und Pit Schubert, Vorsitzender des Sicherheits-
kreises im DAV, waren die Promotoren. Letzterer erkannte richtig: „Bis
in die Fünfzigerjahre wurde schwere Kletterei gleichgesetzt mit Haken-
schlagen. Erst vor wenigen Jahren hat man erkannt, dass Hakenkletterei
in eine Sackgasse führte, und die Wendung zum Freiklettern vollzogen.“
Die UIAA dazu: „Die extremen Kletterer von heute sind ummindestens ein
Grad besser als die Felsmeister der Dreißiger- und Fünfzigerjahre. Die
haben zwar auch trainiert, aber ungleich weniger als heute trainiert wird.“
Als der siebte Grad offiziell anerkannt war, lancierte Kurt Albert eine
geniale Idee: die „Rotpunkt-Bewegung“. Seine Vision – angelehnt an die
Kletterethik im Elbsandstein und die Freeclimbing-Ideologie aus den
USA – fand sofort Anhänger. Zur Fortbewegung sollten allein die vom
Fels vorgegebenen natürlichen Haltepunkte verwendet werden. Die
Frankenjura-Kletterer markierten Routen, die zuvor mit Hakenhilfe und
dann frei geklettert wurden, mit einem roten Farbklecks – daher die Be-
zeichnung „Rotpunkt“. Kurt Albert war der Erste, der dies konsequent tat
– damit hat er die Freikletterbewegung beflügelt, wie wenig andere. Diese
Rotpunkt-Bewegung griff von den Klettergärten auf die Alpen über. Führen
wie die Schüsselkar-Südostwand, der Walkerpfeiler, Tofanapfeiler und
sogar die Blaitière-Westwand, um nur einige zu nennen, bekamen ihre
Rotpunkt-Begehungen. ImZuge dieser Bewegung hat sich deutlich gezeigt,
dass – bei entsprechend intensivem und methodischem Training – die
Grenze des Freikletterns im Fels bei Weitem noch nicht erreicht war.
Dank dieser Ethik, spezifischem Training und verbesserten
Sicherungsmittel stieg die junge Generation mit rasanter
Geschwindigkeit über alte Tabus hinaus. Während die Spiel-
möglichkeit eines
SIEBTEN GRADES
zehn Jahre zuvor noch
geleugnet wurde, bewegen sich heute bald viele Spitzen-
kletterer zwischen dem neunten und zehnten Grad, zwischen
7c und 8b also. Schon vor 20 Jahren peilten die Allerbesten
den zehnten Grad (8c) an.
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