Der große Tag
22. September, 1:46 Uhr – Ich warte auf der
Brücke von El Cap auf Chantel und Mayan. Im
Gegensatz zum letzten Mal ist es ganz ruhig.
Am Straßenrand sind weniger Autos und Trucks
geparkt. Ich höre einen Fisch im Merced River
springen und in der Ferne Grillen zirpen. Ich
denke über den bevorstehenden Tag nach:
El Cap und den Half Dome rauf und runter, das
sind mehr als 5000 Höhenmeter. Ich kann mir
kaum vorstellen, wie sich die letzten Stunden
des Tages anfühlen werden. 2:25 Uhr – Chantel
und Mayan erreichen die Brücke. „Es ist warm”,
sagt Chantel während sie sich fertig macht.
Bald machen wir uns auf den Weg zum Fuß von
„The Nose“.
2:53 Uhr
– Mayan trinkt einen Schluck und sagt
„Ich mache mich jetzt mal auf den Weg nach
oben. In 10 Sekunden geht’s los. Die Ausrüstung
und die Alu-Karabiner klirren und schrammen
am Fels entlang, als sich beide zum Startpunkt
der Route begeben. John und ich biegen ab und
gehen hoch zu den East Ledges. Wir versuchen
schnell auf den Gipfel zu kommen, damit wir
ihre Ankunft oben nicht verpassen.
10:35 Uhr
– Mayan erreicht den Baum am End-
punkt von „The Nose“. Sie wirkt selbstbewusst
und aufgekratzt. Sie zieht das Seil hoch und
schlingt es um den Baum herum. „Los, Chan-
tel!”, ruft sie aufmunternd. „Ich stoppe die Zeit
auf meiner Uhr.” Chantel berührt den Baum.
Die Uhr bleibt bei
7:26
stehen. Sie haben den
bisherigen Rekord um fast drei Stunden unter-
boten. Nacheinander rufen beide: „Yeah! Juhu,
das lief perfekt!”, freut sich Mayan. „Du warst
super!”–„Wir sind die schnellsten Frauen – im
Frauenteam und sogar als Mixed. Bis da jemand
rankommt, wird es eine Weile dauern.” Chantel
lächelt selbstbewusst und ihre hochgezogenen
Backen verschwinden hinter ihrer Sonnenbrille.
Die beiden trinken und danach ziehen wir los
zu den East Ledges und seilen uns seitlich von
El Cap ab. Libby, Chantel und Mayan sitzen ge-
meinsam an einem Picknicktisch. Es gibt Spi-
nat, Würste und Wasser. Die Frauen schlingen
mit ihren noch getapten, schmutzigen Händen
ihr Essen hinunter. Jemand hängt ihnen rosa-
weiße Blumengirlanden um den Hals. Kurz da-
nach sind wir auf dem Weg nach Curry Village,
um von dort aus mit unseren Rädern zumMirror
Lake zu fahren. Dort angekommen stellen wir
sie ab und laufen mit der brennenden Sonne im
Rücken die Death Slabs hoch, zum Fuß des Half
Dome.
16:04 Uhr – Mayan trägt das Seil in einer „Kiwi
Coil” über der Schulter. Sie wollen die Route im
”simul-climb” klettern. Chantel ist vollgepackt
mit Ausrüstung. Ihr Oberkörper gleicht einem
Regenbogen aus Metall und Gurtband. Beide
Frauen wirken müde und jede Bewegung kostet
sichtbar mehr Kraft als noch am Morgen. Ich
sehe in ihren Augen, dass sie an die kommenden
Strapazen und Schmerzen denken. „Wir wol-
len uns nicht so genau vorstellen, was gleich
beim Losklettern auf uns zukommen wird”, sagt
Chantel. „Ich bin gerade nicht so scharf aufs
Klettern wie noch oben auf El Cap”, meint Mayan.
16:28 Uhr – Chantel beginnt langsam und vor-
sichtig zu Klettern. In neun Meter Höhe setzt
sie ihre erste Sicherung, bevor sie sich auf ein
kleines Dach stemmt. Dickey und ich drehen
um, um die beiden oben zu treffen.
23:19 Uhr – Mayan nähert sich dem Gipfel des
Half Dome. Oben angekommen baut sie einen
Fixpunkt und sichert Chantel bis zum Ausstieg.
„Ich muss von der Kante weg” Chantel braucht
Abstand. Ohne sich auszuklinken oder ihre Aus-
rüstung abzulegen, bricht sie auf der Felsplatte
zusammen und kauert dort still mit dem Kopf
zwischen den Armen. Wenig später steht sie auf,
ihre Augen sind feucht. „Ich hab’ mich bis zum
Schluss zusammengerissen”, sagt sie. Sie habe
am Half Dome Essen und Trinken vergessen,
erklärt Chantel. Es weht ein starker Wind. Sie
reden, aber nicht viel. Sie umarmen sich und wir
steigen über die steile und glatte Stahlseilroute
des Half Dome ab, queren über die Schulter und
dann runter über die Death Slabs. Um 2:30 Uhr
kommen wir bei den Fahrrädern an und finden
Libbys Geschenk: Zwei Flaschen Bier und ein
selbstgebasteltes Schild auf dem „Gerade ge-
liefert” steht. Wir schwingen uns auf die Räder
und fahren zurück.
Am nächsten Nachmittag treffe ich die Frauen
und die Crew bei El Cap Meadow. „Ich habe
vielleicht Lust auf eine Dreifachbegehung
nächstes Jahr, wie sieht’s bei Dir aus?”, fragt
Mayan Chantel. Sie möchte in 24 Stunden noch
die 600 m vom Mt. Watson dranhängen. Sie
spricht auch davon, El Cap und Half Dome an
einem Tag frei zu klettern. Sie ist motiviert. Wir
werden sehen.
Chantel kehrt nach Idaho zurück. Ein paar Tage
später tut sich Mayan mit Sean Leary zusam-
men und gemeinsam klettern sie „The Nose“ in
4:29.
In seinem Blog schreibt er: „Ich bin sicher,
dass Mayan es auch mindestens zwei Stunden
schneller schafft, wenn sie will.” Nachdem auch
der Team-mixed-Rekord geschafft ist, verlässt
sie das Tal und fliegt zu ihrem nächsten Klet-
terziel in Australien. Sie verlässt Yosemite als
Halterin des Frauen-Rekords und auch des
Mixed-Rekords.
Bis da jemand
ran
ko
mmt,
wird es
eine Weile dauern.