Als sie nach unten blickt, um ihren Stand zu
prüfen, sehe ich sie kindlich vor sich hin lächeln.
Mit der freien Hand zieht sie das Seil hoch und
hält es mit den Zähnen fest. Dann fasst sie nach,
um sich in die nächste Sicherung einzuhängen.
Einen Sekundenbruchteil später lösen sich alle
Sicherungen aus dem Riss und sie fällt wie ein
Stein. Die Seillänge, die sie bereits hochgezo-
gen hatte, fällt herunter. Schnell und instink-
tiv blockiere ich das Seil, damit sie unten nicht
auf die Felskante knallt. „Das ist mir noch nie
passiert“, sagt sie ganz ruhig. Nach einer kurzen
Pause klettert sie den Riss wieder. Nach dem
Durchstieg, am Felsvorsprung stehend, drückt
sie Ihre Begeisterung mit nur einem Wort aus:
„Toll.“ Dann untersucht sie ihre Finger: „Sie
sehen gar nicht so übel aus.“
Fünf Minuten mit Mayan reichen, um zu merken,
dass sie anders ist als alle, die man vorher ge-
troffen hat. Sie redet wenig und ist so auf ihr
Ziel fixiert, dass es kaum aussieht, als hätte
sie Spaß. Aber am Fels strahlt sie von innen,
während sie zu einem herunterlächelt.
Mayans Karriere begann mit kleinen Felsen
in Neuseeland und gelegentlichen Trips zum
Mt. Arapiles in Australien. Heute gehört sie zu
den angesehensten Kletterinnen der Welt. Sie
kletterte bereits bis 5.14b Sport und bezwang
kürzlich als zweite Frau im freien Aufstieg die
Salathé (VI 5.13b/c) amEl Capitan. Auch kletterte
sie in 14 Stunden die Variante „Free Rider“ über
Salathé (VI 5.13a, etabliert, solo, Alex Huber,
1995) am „El Cap“ komplett frei. Smith-Gobats
Hartnäckigkeit, ihre Fähigkeit, sich eine schwie-
rige Aufgabe auszusuchen und sie konsequent
bis zum Ziel zu verfolgen, ist eine Inspiration für
alle Kletterer.
„Nach dem Durchstieg der Salathé war ich
super-glücklich, aber irgendwie war es auch
ein Verlust“, sagt Mayan, während sie auf der
Veranda einer Bergrettungshütte hinter Camp
4 (dem Kletter-Campingplatz in Yosemite) ihr
Regal aufräumt. „Ich fühlte mich eine Zeit lang
etwas verloren, da ich kein großes Ziel mehr
hatte. „El Cap“ frei zu klettern, war ein Lebens-
ziel von mir, etwas, von dem ich schon immer
träumte.” In ihrer vierten Saison im Yosemite
Park kam sie, um auf „The Nose” der bekann-
testen Route des El Capitans mit knapp über
900 m Höhe einen neuen Speed-Rekord zu
setzen. Nach „The Nose“ werden Mayan und
ihre Partnerin Chantel noch am selben Tag auch
den Half Dome mit knapp über 600 m Höhe klet-
tern. Das wird die erste Doppelbegehung eines
Frauenteams sein. Chantel Astorga, 27, war