GÜLLICHS’
ACTION
DIRECTE
Damals betonte er nicht nur einmal, dass der elfte Grad nur einen Be-
wertungsvorschlag darstelle, den potenzielle Wiederholer erst noch
zu bestätigen haben. Was ihm half, war der Umstand, dass er nicht zum
ersten Mal vor diesem Problem stand. 1984 durchkletterte Wolfgang
Güllich mit Kanal im Rücken die erste Zehner-Route weltweit, 1985 er-
reichte er mit «Punks in the Gym» die erste X+. 1987 kreierte Güllich mit
Wallstreet die erste XI- auf dem Erdball.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass Güllichs Bewertungsvorschlag
von den Wiederholern anerkannt wird und die Route „Action Directe“
als erster 11er in die Analen der Sportklettergeschichte Eingang findet.
Gewissermaßen ein neuer Rekord der Senkrechten. Jedoch hinter der
kruden Ziffer XI verbirgt sich weit mehr als die simple Benennung eines
sportiven Rekords. Was hier als neuer Schwierigkeitsgrad auf das Papier
geschrieben wird, ist Ausdruck eines Lebens – wie so oft im Hochleis-
tungssport – zwischen visionärem Optimismus und quälendem Zweifel
am Erfolg, zwischen knallharter Schinderei im Training und der vagen
Hoffnung auf das Zusammentreffen all jener optimalen Bedingungen, die
den finalen Erfolg erst gewähren. So gestaltet sich diese neue Höchst-
marke im Freiklettern als Endpunkt einer mehr oder weniger zielstrebigen
Vorbereitung.
April 1991:
Wolfgang Güllich beginnt zu trainieren, nachdem er in den vor-
angegangenen drei Jahren neue Marksteine im alpinen Freiklettern in den
Weltbergen vom Himalaya bis Patagonien gesetzt hat. Keine Expeditionen
mehr, keine wochenlangen Reisen. Getreu seinem Motto, jedes Jahr eine
Pionierleistung, ein „Highlight“, wie er es nannte, im Sportklettern zu set-
zen, beginnt er die Vorbereitung. Das Trockentraining im chromblitzenden
Hightech-Studio und amCampusboard, umgeben vomflauschigen Flor des
Teppichbodens im Fitnesscenter, gerinnt zur kontrastreichen Spielwiese
gegenüber den Klettertagen im natürlichen Fels der fränkischen Hügel-
landschaft.
Güllich, einer der fähigsten Analytiker im Klettersport, weiß, wie in etwa
ein neuer Weg im Grenzbereich beschaffen sein muss. Wenn man wie
er, mehr als eine Dekade die Entwicklung des Klettersports in der Welt-
spitze mitbestimmt hat, dann bekommt man eine Vorstellung davon, wie
eine Route in einem neuen Schwierigkeitsgrad gestaltet sein muss. Da
ist typische Kletterei im Frankenjura, die äußerst kurz, kraftraubend und
überhängend ist, keinerlei Pausen und Ruhepunkte zulässt und nur an
den vorderen Fingergliedern geklettert wird, eine Belastung – so sieht es
der Analytiker – im submaximalen Bereich mit bis zu einer Minute Dauer.
Und so gestaltet Güllich sein Training!
NACH DEM KLETTERN
EINEN KAFFEE TRINKEN,
KAFFEE TRINKEN IST
BESTANDTEIL DES
KLETTERNS.“
WOLFGANG GÜLLICH
Das klassische Drehbuch einer sportlichen Trainingsphase sieht so aus:
Hangeln an den Fingerspitzen über schmale Leisten am überhängenden
Trainingsboard, statische Haltearbeit im Wechsel mit fließend schnel-
lem Klettern ohne die Möglichkeit einer Regeneration innerhalb jener
60 Sekunden, die so typisch für die Kletterei im Frankenjura sind, Grei-
fen, an immer kleiner werdenden Leisten und weit entfernten Haltepunk-
ten ohne jegliche technische Raffinessen, bis sich die Auflagefläche auf
einzelne Fingerpaare reduziert und der Trizeps für harte Blockierstellen
am Fels den notwendigen Umfang erreicht.
Intensiv, dynamisch und gezielt
– die Trilogie zum Erfolg. In jedem
Bruchteil einer Sekunde, in dem die Hand zum Griff geführt wird, rinnt
unerbittlich die Kraft durch die Unterarme, leeren sich gnadenlos die Ener-
giespeicher der Muskulatur. In solchen Schwierigkeitsgraden ist nicht viel
mit überlegtem Greifen und langsamen Anvisieren eines Fingerlochs. Die
Muskeln haben zu explodieren und die Finger müssen blitzschnell und
sicher die Griffe treffen, ansonsten zerrt die Schwerkraft unerbittlich in
die Tiefe. Güllich verbessert die Auge-Hand-Koordination, optimiert die
geführte Dynamik seiner Bewegungen, trainiert seine Schnellkraft.
Zwischen dieser eintönigen Knochenarbeit unter fadem Kunstlicht zieht
es Güllich für Herz, Lust und Koordination immer wieder an den Fels.
Während der Suche nach der idealen Kletterlinie, die dem neuen Grenz-
bereich entsprechen soll, gibt der Freund Milan Sykora Wolfgang den Tipp
für eine Linie an einem unscheinbaren Felsen mit Namen Waldkopf.
Diese direkte Linie an einem kompakten Überhang, der ähnlich wie
ein Schiffsbug in die Luft ragt, erzeugt jenes nervöse Kribbeln, das
jeden Kletterpionier vom Scheitel bis zur Sohle elektrisiert. Wolf-
gang Güllich ist begeistert. Der erste Blick in die Tour ernüchtert.
Illusorisch weit entfernt scheint jeder Durchstieg. Aber der Schritt
in einen neuen Schwierigkeitsgrad, dessen ist sich Güllich bewusst,
muss am Anfang illusorisch erscheinen! Einzig belebt durch das süße
Spannungsfeld zwischen herausfordernder Utopie der Linie und vager
Vision, sie ins Machbare herunterholen zu können. Der Wiederholer einer
Route weiß, dass es geht. Der Erstbegeher weiß im Grenzbereich herzlich
wenig, schwankt zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen machbar
und unmöglich, zwischen Frustration und Optimismus. Im Kopf tobt der
Kampf von Angriff und Rückzug. Ein mentales Powerproblem, das über
Niederlage oder Erfolg bestimmt und hinterhältig Energien absorbiert.
Im Sport – das ist ein alter Hut – wird der Erfolg mehr über den Kopf als
über die Muskulatur erzielt.
Güllich versucht sich an der Route. Bisweilen ist er rastlos,
schießt vor dem Morgengrauen übermotiviert senkrecht
in die Höhe. Er versucht ein Optimum an Distanz und Nähe
zur Route zu erreichen und das Spiel zwischen Gelassen-
heit und Aktivismus auszubalancieren. Es gelingt. Wolf-
gang Güllich klettert im September 1991 den Meilenstein
des Kletterns: „Action Directe“.