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Mit Wolfgang Güllich verlor die Kletterwelt einen ihrer
herausragendsten Protagonisten. Das Idol einer ganzen
Klettergeneration. Einen, der on top das Kletterge-
schehen bestimmte, das Limit des Kletterbaren mit un-
fassbar schweren Routen nicht nur einmal nach oben
pushte. Er war Vorbild für die Jungen, weil er schlicht
einer der Besten der Welt war, immer wieder Marksteine
setzte und ungewohnte Wege ging. Er hatte Integra-
tionskraft für Alpinisten ebenso wie für Freeclimber,
weil er an den hohen Weltbergen im Himalaya und in
Patagonien Pionierarbeit für das Freiklettern leistete.
Sympathisch für die Gleichaltrigen, weil er im Denken
geradeaus schien und unkorrumpierbar standhaft der
Individualist blieb. Beispielhaft, weil er in der subkulturell
angehauchten Kletterszene ungebuckelt Selbstbestimmt-
heit und Nonchalance verkörperte, die seit den Siebziger-
jahren den Esprit der senkrechten Welt umhüllten.
Wie man sich dem Leben Wolfgangs auch nähert, es ist
die Geschichte eines sensiblen Mannes von außergewöhn-
licher Energie, hoher Intelligenz und tiefsinnigem Humor,
der sich wie kaum ein Zweiter philosophisch mit seinem
Sport auseinanderzusetzen vermochte. Er war ein Spitzen-
sportler, der spitzbübischen Witz besaß und mit einge-
fallenen Schultern da stand, weil er nicht als Bodybuilder
daherkommen wollte – und doch so stolz auf seine phä-
nomenale Kraft war. Er war ein Mann, der tief im Innern
der schüchterne Bub blieb, der er von Jugend an war. Es
ist die Geschichte eines Kletterstars, der den Kopf aufrecht
hielt und nicht die Nase. Die Souveränität in der Senkrech-
ten übertrug sich auf seine gesamte Persönlichkeit. Es
war leicht, seine direkte und ehrliche Art zu mögen. Es
war schwer, sich seinem Charisma zu entziehen. Nie ar-
rogant, immer den Menschen betrachtend und nie des an-
deren Kletterleistung als Messlatte nehmend. Es war dieser
Wesenszug, der ihn neben seiner Weltklasseleistung zum
Idol werden ließ. Einem wie ihm zollt man gerne Bewun-
derung.
Dann der Morgen an diesem 29. August 1992. Er dämmert
heran, wie jeder andere auch. Im Osten zeigt sich der Him-
mel wässrig rot und die Sonne hängt fahl am Horizont.
Das schwarze Fahrzeug frisst sich auf dem grauen As-
phaltband nach Norden. Irgendwo zwischen München und
Nürnberg driftet der Wagen langsam von der Fahrbahn
ab, schlittert die Böschung entlang und zerschellt an
grauem Beton. Zwei Tage später erliegt Wolfgang Güllich
seinen schweren Verletzungen.
TEXT
TILMANN HEPP
ACTION
DIRECTE
Eine gute Minute geniale Bewegung, geballte Kraft und äußerste Konzen-
tration, siebzig Sekunden für einen Kletterweg, der einen neuen Maßstab
im Sportklettern setzt. Wolfgang Güllich, seit Jahren der Kletterpionier
schlechthin, durchsteigt als erster Vertikalspezialist der Welt eine Route
im glatten XI. Grad. Elf anstrengende Klettertage, verteilt auf drei Wo-
chen, dann waren diese zehn knallharten Züge geleistet. Frei geklettert,
alles aus eigener Kraft. Schnörkellos, ohne Hin und Her. Vorläufiger
Höhepunkt in der rasanten Leistungsentwicklung des Sportkletterns.
„Action Directe“, das sind zwölf schnurgerade Klettermeter durch eine
45 Grad überhängende Wand, die nomen est omen direktes Handeln er-
fordern und medizinisch betrachtet, als einziger Terroranschlag auf die
Fingergelenke zu bezeichnen sind.
Der Einstieg beginnt mit einem dynamischen Maximalkraftzug, gefolgt
von Passagen mit härtesten Blockierkraftzügen an flachen Finger-
löchern, technisch komplizierten Seit- und Zangengriffen mit diffi-
zilen Fußwechseln zum Erreichen stabiler Gleichgewichtspositionen
– und vor dem knallharten Ausstiegsdynamo – zu guter Letzt, eine
Kletterei an Fingerlöchern, in die gerade eine einzelne Fingerkuppen
gequetscht werden kann. Als Zugabe erfolgt die Kletterei durchge-
hend ohne logische Etappen, also ohne größere Griffe. So wird das
Einhängen der Seilsicherung zur maximalen Powerleistung.
Wolfgang Güllich bewältigt hoch konzentriert diesen Parcours der
Mikrowelt im Fels und steht vor dem klettersportlichen Knackpunkt der
Bewertung. Er tut sich schwer. Nachdem er jedoch in den Monaten zuvor
vier Routen im zehnten Grad eröffnet hatte und nochmals in seiner Route
„Wallstreet“ geklettert war, die als erste Route der Welt im unteren elften
Grad gilt, greift er in der nach oben offenen Schwierigkeitsskala für
„Action Directe“ zum elften Grad. Eine Stufe, die zum ersten Mal für die
Bewertung einer Route herangezogen wird.
Beinhartes Training
für die Action: Das Hangeln an
Fingerspitzen am Campusboard.
Französische Kletterer nennen
das Brett heute nach dessen
Erfinder „Pan Güllich“.
ÜBER DIE PERSON
WOLFGANG GÜLLICH
ALEX:
„ALS WIR ANFINGEN ZU
KLETTERN, WAR WOLFGANG GÜLLICH
SCHON WELTSPITZE. WIR HATTEN
POSTER VON IHM IM KINDERZIMMER
HÄNGEN. ER WAR NICHT NUR MEIN
VORBILD, SONDERN AUCH MEIN IDOL.
ICH WURDE VON WOLFGANG INSPIRIERT,
AUCH IN DEN WELTBERGEN ZU KLET-
TERN. ETWA DIE „ETERNAL FLAME“
AM „NAMELESS TOWER“ IM WILDEN
KARAKORUM, DIE ER ZUSAMMEN MIT
KURT ALBERT ERSCHLOSSEN HAT.“